Deprivationssyndrom (Hospitalismus) bei Hunden

Für dieses schriftliche Interview stand uns Dipl. Tierärztin Sabine Schroll zur Verfügung.


Was ist, kurz gefasst, eine Deprivation?


Deprivation bedeutet Reizentzug oder Reizmangel.


Was passiert im Gehirn, während der entschiedenen Entwicklungsphase, wenn ein Hund reizarm aufwächst?


Das Gehirn entwickelt sich beim Hund zu einem guten Teil erst nach der Geburt unter dem Einfluss von Sinnesreizen. Kommen keine oder zu wenige Informationen an die Nervenzellen, werden sie in einem genetisch programmierten Prozess weggeräumt, weil sie ja ohnehin nicht gebraucht werden. Nervenzellen, die einmal durch ankommende Reize stimuliert waren, sind vor diesem Prozess geschützt.


Was genau hat man unter einem Defizit in der Gehirnstruktur bei einem Hund, der unter Deprivation leidet, zu verstehen bzw. von welchen Defiziten spricht man da?


Die Zahl und Vernetzung der Nervenzellen ist reduziert und damit auch die Möglichkeiten, sich flexibel an neue Situationen oder Umweltbedingungen anzupassen. Diese Anpassungsmöglichkeiten sind der eigentliche Grund für diese Art der Gehirnentwicklung – das Gehirn lernt im Laufe des Wachstums, sich individuell dem Lebensraum entsprechend anzupassen. Ein Hund, der auf dem Land aufwächst ist perfekt für diese Umwelt ausgerüstet … und hat seine Probleme, wenn er in der Stadt leben muss. Die Defizite sind auch in der Bandbreite der als „normal“ und ungefährlich empfundenen Reize, die keine Angst auslösen.


Kann das Gehirn diese Defizite wieder dauerhaft korrigieren?


Nein. Dieses schnelle und intensive Lernen findet nur in dieser sensiblen Lebensphase von 3 Wochen bis 3 Monaten statt. Nachträgliches Lernen ist natürlich noch möglich, aber langsam und mühselig gegenüber der frühen Phase.


An welchen Symptomen erkenne ich, das mein Hund an einem Deprivationssyndrom erkrankt ist?


Prinzipiell schon einmal am Kontext – der Hund befindet sich in einer Umwelt, die ganz anders ist als die während seiner Entwicklung. Diese Hunde haben Angst, wenn sie das Haus verlassen sollen, wollen oft lieber nachts raus, wenn es leise ist, sie werden oft nicht sauber, weil sie draußen zu gehemmt sind und lieber in der sicheren Wohnung pinkeln, manche Hunde versuchen sich der Angst durch die „Vierpfotenbremse“ und Steifwerden zu entziehen, manche flüchten und manche lernen sehr schnell, dass Aggression eine gute Allzweckreaktion ist. In der Wohnung oder bei Ausflügen aufs Land sind diese ängstlichen Hunde ganz anders und spielen, benehmen sich „normal“.


Kann die Deprivation auch bei Hunden auftreten, die ein normales Leben hatten, welches sich aber durch traumatische Umstände, zum Beispiel Trennung der Halter, ändert?


Nein – Deprivation ist per Definition eine entwicklungsbedingte Störung mit Reizmangel während der 3. bis 12. Woche. Späterer Reizmangel bei einem gut aufgezogenen Hund führt eher zu Stereotypien oder anderen Verhaltensproblemen. Traumatische Erfahrungen sind manchmal Ursache für Angststörungen wie Phobien oder Depression.


Welche Probleme können Hunde mit einem Deprivationssyndrom in ihrem späteren Leben haben?


Das hängt davon ab, wo sie leben müssen und mit wem sie leben müssen. Manche Hunde scheinen sich zu stabilisieren, solange es keine großen Veränderungen im Leben gibt, Rituale stabil sind und das Leben vorhersehbar. Manche entwickeln aus der chronischen Angststörung irgendwann körperliche Symptome. Trennungsbedingte Probleme sind häufig, wenn der Hund sich ausschließlich durch die Anwesenheit des Besitzers gut fühlt.


Gibt es Medikamente, mit denen man solche Hunde unterstützen kann?


Ja, die gibt es. Je nachdem welche Symptome vorherrschen, stehen einige Präparate zur Verfügung. Die Therapie dauert je nach Schweregrad und vor allem, wann man sie beginnt, zwischen 6 und 18 Monaten. Neben Medikamenten haben sich für Hunde mit Deprivationssyndrom auch die Pheromontherapie und einige Nahrungsergänzungen bewährt.

Was kann ich als Halter eines solchen Hundes tun, um ihn im täglichen Leben zu unterstützen?

Das Leben für den Hund vorhersehbar machen. Je mehr Signale der Hund kennt, desto leichter ist es, ihm in schwierigen Situationen zu sagen, was er jetzt tun soll – alles, was er gut kann und als Gewohnheit etabliert ist, gibt ihm Sicherheit. Und natürlich grundsätzlich einmal einen Therapiebedarf erkennen und chronische Angst nicht als gegeben und selbstverständlich anzusehen!