Das Phänomen der Deprivation

Wikipedia:

„Der Begriff Deprivation (lat. deprivare ‚berauben‘) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem sowie das Gefühl einer Benachteiligung.“



Im Allgemeinen wird unter einem deprivierten Hund ein Hund verstanden, der mangelhaft sozialisiert wurde und in einer sehr reizarmen Umgebung aufgewachsen ist. Deprivation führt zu psychischen Störungen, Entwicklungsstörungen und Anpassungsschwierigkeiten an neue Umweltreize.


Deprivation beim Hund kann ausgelöst werden durch reizarme Aufzucht, Tierheimaufenthalte, zu wenig Konfrontation mit Außenreizen beim Halter (Zwingerhunde) u.ä.

Sozialisierung

Im Leben eines Hundes gibt es verschiedene sensible Phasen, in denen der Hund für Umwelteinflüsse besonders empfänglich ist. Erfahrungen in dieser Zeit werden besonders fest im Gehirn verankert, sowohl positive als auch negative. Außerdem lernt der Hund in dieser Zeit, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, er lernt wichtige Überlebensstrategien und entwickelt bei ausreichender Stimulation eine gewisse Stressresistenz (Resilienz). Die erste und wichtigste sensible Phase beginnt beim Welpen, sobald er Augen und Ohren öffnet, etwa ab der 3. Lebenswoche und dauert etwa bis zur 12.-16. Lebenswoche an, die Wissenschaft mag sich da noch nicht so genau festlegen. Diese Phase nennt man Sozialisierungsphase, der Welpe lernt seine Sozialpartner und sein Lebensumfeld kennen und alles, was in dieser Zeit harmlos oder angenehm erlebt wird, bleibt im Gedächtnis gespeichert und wird auch zukünftig erst einmal als harmlos bewertet.



In der sensiblen Phase werden in einem komplexen Zusammenspiel aus genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen Vorgänge auf neuronaler Ebene in Gang gesetzt. Es werden u.a. Gehirnareale verschaltet und Nervenautobahnen geschaffen, um den jungen Hund optimal auf sein zukünftiges Leben vorzubereiten. Verantwortungsvolle Züchter unternehmen daher so einiges, um die Welpen an ein Leben in einer normalen Familie anzupassen. Vor allem die Anpassung an verschiedene Sozialpartner (Artgenossen, Menschen jeden Alters, andere Haustiere) spielt eine wichtige Rolle. Da es sich hier auch um genetisch bedingte Entwicklungsprozesse handelt, können diese Entwicklungsabschnitte nicht beliebig zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Wenn die Entwicklung des Gehirns abgeschlossen ist, sind Veränderungen bis zu einem gewissen Grad zwar noch möglich, aber bestimmte Verschaltungen und Nervenautobahnen wie in der sensiblen Phase werden eben nicht mehr angelegt oder nur mit sehr viel Aufwand und deutlich instabiler.

Resilienz

Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Materialforschung und beschreibt, wie gut sich ein Material nach physischer Verformung in den Ausgangszustand zurückbewegt. Gummi hat z.B. eine sehr hohe Resilienz. In der Psychologie beschreibt Resilienz die Fähigkeit, nach einem stressenden Ereignis wieder seine innere Mitte, sein inneres Gleichgewicht zu finden und Stress bis zu einem gewissen Maß aushalten zu können. Genau diese Fähigkeit lernt ein Welpe in den ersten Wochen seines Lebens. Wenn er beginnt die Welt zu entdecken, wird er zwangsläufig auf Widerstände treffen oder hin und wieder die Erfahrung machen, dass seinem Tun Grenzen gesetzt sind. Er erfährt auch für ihn im ersten Moment unangenehme Dinge wie medizinische Untersuchungen oder Fellpflege. All das führt dazu, dass der junge Hund lernt, auch in komischen Situationen geht die Welt nicht unter. Fehlt ihm die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, weil er zu reizarm aufwächst, kann sich seine Resilienz nur bedingt entwickeln. Der Hund wird in seinem späteren Leben stressanfälliger sein als gut sozialisierte Artgenossen.

Hospitalismus


Eine besondere Form der Deprivation ist der Hospitalismus. Er wird auch als Kaspar-Hauser-Syndrom bezeichnet und beschreibt die körperlichen und psychischen Folgen einer reizarmen Umgebung, begleitet von mangelnder Versorgung und lieblosem Umgang, auf die Entwicklung eines Lebewesens. Je länger einem Lebewesen die Möglichkeit verwehrt wird, sich selbständig mit Umweltreizen und/oder Sozialpartnern auseinanderzusetzen, je weniger wird es über entsprechende Verhaltensmuster verfügen. Das Lebewesen hat aufgrund mangelnder Erfahrung keine Lösungsideen für verschiedene Umweltanforderungen. Hospitalismus kann bei allen höher entwickelten, sozialen Lebewesen entstehen.


In der Folge von Hospitalismus können verschiedene Verhaltensstörungen entstehen:

Generalisierte Angst, Stereotypien, Bewegungsunruhe, Depressionen, allgemeine körperliche oder geistige Entwicklungsstörungen, verlangsamte Reaktionen, Konzentrationsstörungen u.v.m.


Wird nun ein hospitalisierter Hund mit neuen Reizen konfrontiert, ist er hilflos und kann je nach Persönlichkeit ängstlich, panisch oder aggressiv reagieren. Die neuen Hundehalter vermuten dann oft schlechte Erfahrungen hinter dem Verhalten des Hundes. Oft genug verhält er sich aber so, weil er einfach gar nichts erlebt hat und mit der Situation völlig überfordert ist.

Ist Deprivation heilbar?

Die Frage kann nicht eindeutig mit ja oder nein beantwortet werden. In einem verständnisvollen Umfeld kann der Hund sicherlich einiges an Entwicklung aufholen und sich an immer wiederkehrende Reize gewöhnen. Oft können sie sich nach einiger Zeit im Alltag des Hundehalters gut einrichten. Aber eine gewisse Skepsis Neuem gegenüber wird vermutlich bleiben, je nach Schweregrad der Deprivation.


Der Hund braucht in erster Linie unser Verständnis für seinen Zustand. Wir müssen die Situation erstmal so akzeptieren wie sie ist. Weder Methoden wie „da muss er durch“ noch Zwang oder Strafe werden die Deprivation beseitigen. Auch gut gemeinte Lockversuche oder Zuspruch a la „Du musst doch keine Angst haben.“ werden dem Hund nicht helfen. Betroffenen Haltern bleibt zunächst nichts anderes übrig, als das Umfeld des Hundes so zu gestalten, dass er sich sicher fühlt und Vertrauen aufbauen kann. Erst wenn eine Vertrauensbasis zu mind. einem Menschen geschaffen ist, kann der Hund langsam an neue Reize herangeführt werden.

Was kann man tun?


Die wichtigste Voraussetzung für jede Form von Therapie ist Vertrauen. Der Hund braucht einen Sozialpartner, dem er vertraut, der ihm Sicherheit gibt, auf den er sich in jeder Situation verlassen kann. Zieht der Hund sich völlig zurück, kann man z.B. über Handfütterung dem Hund signalisieren, dass von diesem Menschen keine Gefahr ausgeht.


Ebenso wichtig wie Vertrauen ist ein sicherer Rückzugsort, an dem der Hund genügend Schlaf findet. Gut geeignet ist in den meisten Fällen eine Box, die an einem geschützten Ort aufgestellt wird. Der Hund sollte die Möglichkeit haben, sein Umfeld beobachten zu können ohne direkt involviert zu sein. Für die Familie, insbesondere die Kinder, oder für Besuch sollte klar sein, die Box ist tabu. In der Box wird der Hund in Ruhe gelassen.



Ein gesunder, erwachsener Hund schläft bzw. ruht 16-18h pro Tag, unsere gestressten Hunde brauchen gern noch etwas mehr. Anfangs sind viele Hundehalter irritiert, dass der Hund den ganzen Tag schläft. Aber genau das braucht er jetzt. Im Schlaf werden neue Erlebnisse verarbeitet, Stress wird abgebaut und der Hund sammelt Kraft für die nächsten Entwicklungsschritte.


Im Training bewährt haben sich Herangehensweisen wie „Menschen gucken“ oder „Autos gucken“ oder was auch immer für den Hund problematisch ist. Dazu setzt man sich mit genügend Abstand zum Angstauslöser irgendwo hin und lässt den Hund einfach nur beobachten. Parkplätze an kleinen Supermärkten oder Bänke in der Nähe von kleinen Bahnhöfen eignen sich übrigens hervorragend zum Beobachten von Menschen. Denn im Gegensatz zum Park haben die Menschen am Supermarkt oder Bahnhof wenig Zeit und lassen den Hund meist in Ruhe.



Zu Hause können kleine Übungen gemacht werden, die das Selbstvertrauen des Hundes stärken. Futtersuchspiele, bei denen der Hund sich etwas überwinden muss oder wo er sich körperlich etwas mehr anstrengen muss, eignen sich sehr gut. Alle Aufgaben, die gemeinsam mit dem Menschen bewältigt werden, stärken die Bindung und das Vertrauen.


Auch ein ängstlicher Hund braucht Grenzen. Nur allzu oft werden dem Hund aus falschem Mitleid keine Grenzen gesetzt, der Hund bekommt alle Freiheiten. Für den Hund bedeutet zu viel Freiheit aber gleichzeitig zu wenig Halt. Anstatt den Hund also alles allein entscheiden zu lassen, hilft es ihm viel mehr, wenn man ihm sagt, was er tun und lassen soll. Er möchte viel lieber an die Pfote genommen werden und die Welt erklärt bekommen, die ihm so viel Angst macht und ihn verunsichert. Erst wenn der Hund sich sicher fühlt, kann er Freiheit überhaupt genießen.


Körperbänder helfen den Hunden, ihr Körpergefühl wiederzufinden. Oftmals haben deprivierte Hunde kein Gefühl für den eigenen Körper, wissen nicht, wo ihre Grenze ist. Entsprechend schwer können sie einschätzen, wann diese Grenze verletzt wird. Hilft man diesen Hunden durch Körperbänder, fangen sie oft an, sich wieder freier zu bewegen.



Einem Hund, der nichts kennengelernt hat, hilft oft ein gut sozialisierter Hundekumpel. Auf gemeinsamen Ausflügen kann sich er sich an dem anderen Hund orientieren und sich Verhaltensweisen abgucken. Auch ein souveräner Zweithund im Haushalt kann eine wertvolle Hilfe sein. Nur muss man hier aufpassen, dass der Hund sich dann nicht ausschließlich am anderen Hund orientiert. Ausflüge ohne den Zweithund sind daher genauso wichtig.


Es gibt eine Reihe von Nahrungsergänzungsmitteln, die dem Hund helfen können, sich entspannter mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Welches Mittel für den jeweiligen Hund geeignet ist, muss man ausprobieren. Nicht alles ist für jeden Hund geeignet, was bei Hund A prima hilft, muss bei Hund B noch lange nicht helfen.


Autorin: Michaela Wielan