Desensibilisierung

Ich möchte den Vorgang der Desensibilisierung anhand eines menschlichen Beispiels beschreiben. Für manche Menschen ist es nachvollziehbarer, wenn sie die Gefühle vielleicht sogar selbst einmal durchlebt haben oder zumindest ähnliche Situationen kennen. Fast jeder Mensch hat irgendein Tier, vor dem er sich ekelt oder fürchtet. Für manche sind es Schlangen, für andere sind es Mäuse, in unserem Beispiel geht es um Hans und Hans hat eine ausgeprägte Spinnenphobie.


Was passiert nun, wenn Hans mit einer Spinne konfrontiert wird?


Das limbische System (Funktionseinheit des Gehirns) registriert "Oh, eine Spinne" und sendet entsprechende Signale an die Hormon-produzierenden Zentren. In Folge dessen wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol und diverse andere Hormone und Neurotransmitter treten ihre Reise durch den Körper an. Noch bevor Hans einen klaren Gedanken fassen kann, hat sein Körper bereits entschieden, ob er die Flucht antritt, vor Angst erstarrt oder die Spinne erschlägt. *


* Das ist eine stark vereinfachte Darstellung. Die Stressreaktion im Körper ist ein komplexer Ablauf verschiedener Prozesse. Weitere Ausführungen würde hier aber zu weit führen.


Zum Glück für uns lässt sich das Hormonsystem trainieren. Wir können es an bestimmte Auslöser gewöhnen und die Reaktionen mit der Zeit abschwächen oder sogar komplett auslöschen. Desensibilisierung bedeutet Gewöhnung an bestimmte, immer wiederkehrende Reize. Das Gegenteil wäre die Sensibilisierung, wobei das Hormonsystem erst für bestimmte Reize überhaupt empfindlich gemacht wird. Bekäme z.B. ein Mensch immer bei einem bestimmten Geräusch einen Schmerz zugefügt, würde das Hormonsystem schon in Alarmbereitschaft versetzt, wenn nur das Geräusch erklingt. Je nach Stärke der unangenehmen Erfahrung reicht für die Sensibilisierung u.U. bereits eine Verknüpfung aus, z.B. Angst vor dem Autofahren nach einem Unfall.


Aber zurück zur Desensibilisierung. Wie würde man nun vorgehen bei unserem Hans mit seiner Spinnenphobie? Im ersten Schritt würde man ihn wahrscheinlich nur mit harmlos wirkenden Spinnen in ziemlich großer Entfernung konfrontieren, vielleicht wäre sogar eine Glasscheibe dazwischen. Der Harmlosigkeitsfaktor und die Entfernung müssen so gewählt werden, dass das Hormonsystem nur etwas reagiert und Hans die Situation noch einigermaßen aushalten kann. Würden wir unterhalb der Reaktionsschwelle bleiben, gäbe es keine anzupassende Reaktion des Hormonsystems. Desensibilisierung bedeutet also auch das Ausloten von Grenzen.



Hans wird jetzt immer wieder mit der gleichen Situation konfrontiert, die gleichen Spinnen, die gleiche Entfernung, und zwar so oft, bis Hans beim Anblick der Spinnen entspannt bleibt. Wenn das passiert, haben wir die Reaktionsgrenze auf Spinnen bereits minimal erhöht. Das ist der Zeitpunkt, die Anforderung zu erhöhen. Entweder nehmen wir jetzt etwas gruseligere Spinnen oder wir entfernen die Glasscheibe ober wir verringern den Abstand. Wichtig: Wir verändern immer nur einen Parameter, nie mehrere auf einmal! Und wir verändern diesen einen Parameter immer nur soweit, bis wir wieder einen Zustand haben, wo Hans zwar angespannt ist, die Situation aber aushalten kann. Zwischendurch bekommt Hans immer wieder genügend Zeit, sich zu erholen und die Erfahrungen zu verarbeiten. Auch diese Erholungsphasen sind sehr wichtig!


Klingt nach viel Aufwand und viel Zeit? Ist es auch. Aber am Ende dieses Weges sitzt Hans womöglich gemütlich bei einem Kaffee, eine Vogelspinne auf der Hand und lacht über seine ehemaligen Ängste. Zugegeben, das wäre ein sehr hochgestecktes Ziel. Für den Alltag würde es wahrscheinlich völlig ausreichen, wenn Hans beim Anblick einer Spinne nicht mehr in Panik ausbricht, sondern sie einfach gelassen akzeptiert. Kuscheln muss ja nicht unbedingt sein.


Wenn Ihr nun mit Euren Hunden anfangt zu arbeiten, guckt als erstes, welche Dosis des Auslösers kann Euer Hund aushalten, wo sind die Grenzen, was wäre ein realistisches Ziel und wie könnten die Detailschritte aussehen. Lieber zu kleine Schritte als zu große. Lieber viele kleine Zwischenschritte als wenige große Schritte.

Sonderfall Geräusche

Dem aufmerksamen Leser wird nun vielleicht auch klar sein, warum es so schwer ist, Hunde für bestimmte Geräusche zu desensibilisieren. Die meisten Geräusche lassen sich durch uns weder kontrollieren noch dosieren. Gerade wenn es um Geräusche wie Gewitter oder Feuerwerk geht, sind unsere Einflussmöglichkeiten doch stark begrenzt. Im Handel angebotene Geräusche-CDs verfehlen oft ihre Wirkung, weil viele Hunde sehr gut zwischen Realität und Konserve unterscheiden können. Hier kann man eher den Weg der Gegenkonditionierung versuchen. Bei besonders starkem Stress hilft oft nur, dem Hund die Situation so angenehm wie möglich zu machen und ihm zu helfen, sich zu entspannen. Die konditionierte Entspannung kann ebenfalls ein Weg sein.


Autorin: Michaela Wielan